Auszug aus einem Tagebuch:
Zu Hause habe ich als Erstes meinen Zimmerschlüssel weggeworfen.
Ich habe ihn im Klo runtergespült. Sollte sie doch toben, wenn sie
heim kam. Niemand würde mich mehr einsperren – nie mehr.
Obwohl meine Mutter es nicht gern sah, dass ich mich in ihrem
Schlafzimmer aufhielt, bin ich hineingegangen. Ich habe mich mitten
hinein gestellt. Es roch nach kaltem Zigarettenrauch und süßem,
billigem Parfum. Das Bett war frisch bezogen. Es war immer frisch
bezogen. Sie war allzeit bereit. Sie brauchte sich nur hineinfallen
lassen.
Bis zu jenem Tag war es mein größter Wunsch gewesen, mich zu
ihr ins Bett legen zu dürfen und mit ihr zu kuscheln. Carla durfte
jedes Wochenende zu ihrer Mutter ins Bett. Und meistens endete es
mit einer lustigen Kissenschlacht.
Das Bett meiner Mutter hatte seit jenem Nachmittag keine Anziehungskraft
mehr auf mich, ich hatte kein Verlangen mehr, mit ihr zu
kuscheln. Meine Kindheit war vorbei. Mit knapp zehn Jahren fühlte
ich mich ihr mit einem Male entwachsen. Wo ich in der Frühe noch
aufgekratzt durch die Räume gehüpft war, stand ich jetzt wie eine
Marionette, der die Schnüre gekappt worden waren. Ich legte mich auf
die frisch bezogene Wäsche und starrte an die Decke. Die Kirmesmusik
rauschte in meinen Ohren. Über mir kreisten die Fliegenden
Tassen. Ich breitete die Arme aus, schloss die Augen und kreiste
mit. Ich träumte. Träumte, dass ich mit meiner Mutter über Libori
bummele, an den Buden Lose ziehe, einen Riesenteddy gewinne.
Wir bummeln weiter, kaufen uns Pommes, schauen eine Weile dem
Riesenrad zu und lauschen der nostalgischen Jahrmarktsorgel in der
Liliengasse. Fremde Männer gehen an uns vorbei. Sie winken meiner
Mutter zu, locken sie mit einer Flasche Bier in der Hand. Sie wehrt
ab, legt liebevoll einen Arm um meine Schulter und geht mit mir
weiter.
Der Traum war vorbei. Es würde auf immer und ewig ein Traum
bleiben.
Ich stand auf, ging an ihren Schminktisch und durchwühlte die
Döschen und Stifte. Ich begann, mich anzumalen. Die Augen
schwarz, den Mund tiefrot. Ich besah mich im Spiegel, öffnete den
Mund, so wie sie es im Karussell getan hatte, um einen lustvollen
Schrei auszustoßen. Ich stieß einen stummen Schrei aus, die Lippen
verzerrt, den Kopf weit zurückgelegt.
Ohne den Blick vom Spiegel zu lassen, tastete ich nach der
Schachtel Zigaretten auf dem Tisch. Ich zog eine heraus, steckte
sie an und paffte mein Spiegelbild an. Der Rauch brannte mir in
den Augen. Ich wischte mit dem Handrücken über meine Lider und
verschmierte alles. Zigarettenasche fiel auf den weißen Flokati. Helle
Fasern färbten sich schwarz. Ich betrachtete den Fleck, sah zu, wie die
Asche verglühte, ohne weiteren Schaden anzurichten. Früher hätte ich
mich gesputet, um schnell wieder alles in Ordnung zu bringen. Heute
hatte ich das Gefühl, nichts mehr in Ordnung bringen zu müssen. Es
führte zu nichts. Ich nahm das halb volle Whiskyglas, das zwischen
den Schminksachen stand, schüttete den Inhalt auf den Fleck und
verließ ihr Zimmer.
Später am Abend hörte ich sie mit jemandem nach Hause kommen.
Ihr erster Weg führte sie zu meiner Zimmertür, um abzuschließen.
Wie immer, wenn sie nicht allein gekommen war. Ich stellte mich
schlafend. Sollte sie doch den Schlüssel suchen. Ich hörte sie leise
schimpfen. Dann wieder kicherte sie, juchte, als würde sie durchgekitzelt.
Die Stimmen wurden leiser. Sie zog sich mit dem Kerl in
ihr Zimmer zurück. Aber auch das Zimmer würde sie heute nicht
abschließen können. Wenn überhaupt, würde ich es abschließen, und
zwar von außen … Ich lauschte, bis ihr Kichern in ein Stöhnen
überging.
Ich tastete unter mein Kopfkissen, spürte das kleine Feuerzeug,
das ich aus ihrem Schlafzimmer mitgenommen hatte, in meiner Hand
und lächelte. Ich stand auf und ging in den Flur. Im Garderobenspiegel sah ich mein Gesicht. Es war noch
immer verschmiert, als befände ich
mich auf dem Kriegspfad.
Ich wiederholte den stummen Schrei. Vielleicht würden ihn bald
alle hören …